Zukunft Mittelstand

Zurück in die Zukunft. Ein Weckruf aus der Wirtschaft

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AdobeStock, frank peters

Fachkräfteeinwanderung und Bildung

12. März 2024

Fachkräfteeinwanderung und Bildung

Die große Bedeutung, die die berufliche Bildung zur erfolgreichen Bewältigung des digitalen, ökologischen und demografischen Strukturwandels und damit zur Fachkräftesicherung im Allgemeinen einnimmt, wurde bereits oftmals erörtert und ist heute wohl allgemein anerkannt. Der Beitrag dagegen, den die berufliche Bildung zur »Fachkräftesicherung durch Fachkräfteeinwanderung« im Besonderen leistet oder leisten könnte, scheint man weithin zu übersehen. Der vorliegende Beitrag will diese Lücke schließen.

Die Fachkräftesicherung ist nach zwischenzeitlich wohl allgemeiner Einschätzung die große Herausforderung für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland. Mit ihr steht und fällt nicht mehr oder weniger als die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, der Wohlstand und der soziale Frieden in Deutschland.

Die Zahlen sind dramatisch. Die Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, weist für das dritte Quartal 2023 deutschlandweit 1,73 Millionen offene Stellen aus. Das IAB betont dabei zwar, dass dieses fünf Prozent weniger offene Stellen sind als ein Jahr zuvor und dass sich damit der positive Trend einer Entspannung abzeichnet. Nur wer sich die Zahlen genauer ansieht, stößt aber auf ein weiterhin beunruhigendes Detail: Trotz des festgestellten positiven Gesamttrends nehmen nämlich gerade umgekehrt die offenen Stellen in KMU, hier verstanden als Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten, weiterhin und stetig zu. D. h.: Bei KMU setzt sich der Negativtrend fort, indem sich der Fachkräftemangel gegen den gesamtwirtschaftlichen Trend entwickelt und noch weiter verschärft. Dieses bestätigt im Übrigen empirisch noch einmal die These, dass die KMU durch den Fachkräftemangel stärker und auch nachhaltiger betroffen sind als größere Unternehmen oder statisch die Gesamtwirtschaft. 

Ein ähnliches Gesamtbild ergibt sich bei einem Blick in die Zukunft. Das Fachkräftemonitoring für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Mittelfristprognose bis 2027 (August 2023) sieht im Zeitraum von 2023 bis 2027 einen Neubedarf an Erwerbspersonen aus Arbeitsplatzentwicklung sowie einen Ersatzbedarf von gesamt rund 4.89 Millionen Personen. Dem soll in demselben Zeitraum ein Neuangebot an Erwerbspersonen aus dem Inland von nur rund 4,84 Personen gegenüberstehen. Logische Folge: Es müssten – rein rechnerisch – eine halbe Millionen Erwerbspersonen innerhalb von fünf Jahren aus dem Ausland kommen. 

Der Langfristprojektion des Fachkräftebedarfs in Deutschland 2021-2040 (Februar 2023) folgend, setzt sich der Trend zwar auch über das Jahr 2027 hinaus fort, schwächt sich aber etwas ab. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sagt voraus, dass bis 2040 infolge des wirtschaftlichen und beruflichen Strukturwandels etwa 4,27 Millionen Arbeitsplätze wegfallen und etwa 4,13 Millionen neu entstehen. Der Saldo beträgt »nur« 140.000 Menschen, die also – sehr vereinfacht ausgedrückt − prognostisch nach dem Wegfall ihres Arbeitsplatzes keinen neuen Arbeitsplatz finden würden. Kann das beruhigen? 

Nein! Eine nur statistische oder volkswirtschaftliche Herangehensweise versperrt den klaren Blick auf das, was sich in der konkreten Lebenswirklichkeit tatsächlich zurzeit abspielt oder in Zukunft abspielen wird. Diejenigen Menschen, die bisher auf den bis 2040 wegfallenden 4,27 Millionen Arbeitsplätzen arbeiten, werden nicht ohne Weiteres oder gar nicht auf die 4,13 Millionen bis dahin neu entstehenden Arbeitsplätze wechseln können. Es geht um sogenannte »Passungsprobleme«, die es massenhaft zu lösen gilt. Die eigentliche Herausforderung für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zur Fachkräftesicherung wird also darin bestehen, den Übergang von über 4 Millionen Menschen, deren Arbeitsplätze wegfallen werden, auf über 4 Millionen andere Arbeitsplätze, die entweder bereits bestehen oder neu entstehen, erfolgreich zu bewältigen – und zwar das auf volks- und betriebs- wirtschaftlich sowie sozial verträgliche Weise. 

Zur Überwindung des Fachkräftemangels bedarf es natürlich eines ganzen Bündels von Maßnahmen. 

Dazu gehört vor allem die Einschließung aller inländischen Potenziale (u. a. durch berufliche Aus- und Weiterbildung, die Stärkung der Erwerbsarbeit von Frauen und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, einen schnelleren oder besser: einen nachhaltigeren Arbeitsmarktzugang für geflüchtete Menschen sowie eine frühzeitigere Berufsorientierung junger Menschen, um Fehlallokationen zu vermeiden, usw.). 

Aber darüber hinaus ist Deutschland existenziell auf die Zuwanderung von Fach- und Arbeitskräften angewiesen und zwar mit Blick auf die bisherigen Erfahrungen vor allem aus Nicht-EU-Staaten (»Drittstaaten«). 

Das neue »Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung« (2023) setzt genau dort an. Es will die Zuwanderung von Fach- und Arbeitskräften aus Drittstaaten sowohl erleichtern als auch verstärken. Trotz vieler neuer und guter Ideen weist das Gesetz aber einen grundlegenden Mangel: Es wird versäumt, die berufliche Bildung stärker für eine verbesserte Fachkräfteeinwanderung fruchtbar zu machen. Welche Ansätze könnte es hierfür geben? 

Das Zuwanderungsrecht in Deutschland ist und bleibt stark dem traditionellen deutschen, auf die duale Berufsausbildung aufbauenden Berufsbildungssystem verhaftet. Deshalb setzt es für die Zuwanderung nach Deutschland fast durchgängig eine im Ausland erworbene Berufsqualifikation voraus, die entweder im Ausland staatlich anerkannt oder aber – vereinfacht ausgedrückt – mit der deutschen Berufsausbildung gleichwertig sein muss. Das bringt ein weithin bekanntes Problem mit sich: Berufsqualifikationen, die diese Hürden nehmen, sind – abgesehen von Hochschulabschlüssen – zumindest in Drittstaaten fast gänzlich unbekannt. Das deutschen Fachkräfteeinwanderungsgesetz verfehlt infolgedessen ihre Zielgruppe, die eigentlich zuwanderungswilligen Fach- und Arbeitskräfte. 

Hier könnte erstens die berufliche Weiterbildung für eine erfolgreichere Fachkräfteeinwanderung fruchtbar gemacht werden und für Abhilfe sorgen. Angesetzt würde entweder bei der Anerkennungspartnerschaft (§ 16d des Aufenthaltsgesetzes in der neuen Fassung – »Erfahrungssäule«) oder vielleicht eher bei der Chancenkarte (§ 20a des Aufenthaltsgesetzes in der neuen Fassung – »Potenzialsäule«). 

Statt einen im Ausland erworbenen und im Inland als gleichwertig anerkannten bzw. anzuerkennenden Berufsabschluss zu fordern, sollten – neben dem Arbeitsvertrag mit einem deutschen Arbeitgeber bzw. neben der Sicherung des Lebensunterhalts in Deutschland − für die Zuwanderung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit lediglich ausgeprägte und nachweisbare Berufserfahrungen verlangt werden, d. h. informell und/oder non-formal erworbene berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten, aber ergänzt durch die Verpflichtung, entweder noch vor Aufnahme der Beschäftigung in Deutschland oder aber begleitend zur Durchführung des Beschäftigung eine berufliche Weiterbildung zu absolvieren. 

Hierfür bieten sich vor allem sogenannte berufsanschlussfähige Teilqualifizierungen an. Sie zeichnen sich unter anderen beruflichen Weiterbildungen dadurch aus, dass das gesamte Berufsbild nach deutschen berufs- bildungsrechtlichen Qualitätsstandards in mehreren, zeitlich abgegrenzten Abschnitten, die jeweils abgeschlossenen betrieblichen Einsatzfeldern entsprechen, vermittelt wird. D. h.: Die Unternehmen können die Absolventinnen und Absolventen der einzelnen Abschnitte in dem jeweils entsprechenden betrieblichen Einsatzfeld bereits nach wenigen Wochen auf Fachkräfteniveau einsetzen. 

Ein zweiter Ansatz, um die berufliche Bildung zur Verbesserung der Fachkräfteeinwanderung einzusetzen, wäre eine Verknüpfung von Fachkräfteeinwanderung und Entwicklungszusammenarbeit. So könnte der deutsche Staat im Rahmen der öffentlich finanzierten Entwicklungszusammenarbeit Angehörige von Drittstaaten nach deutschen berufsbildungsrechtlichen Qualitätsstandart im Ausland beruflich aus- oder weiterbilden. Die Absolventinnen und Absolventen einer solchen Berufsbildungsmaßnahme dürfen dann im Anschluss daran nach einem vorher feststehenden Schlüssel nach Deutschland zuwandern, die anderen verbleiben zur Entwicklung des Drittstaates am eigenen Arbeitsmarkt. 

Drittens gibt es für eine Zuwanderung zum Zwecke der Aufnahme einer Berufsausbildung (»Bildungsmigration«) einen praktisch sehr schwerwiegenden Hemmschuh: Die Zuwanderungswilligen aus Drittstaaten müssen im Voraus nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt in Deutschland selbst sichern können. Dieses erschwert es ganz erheblich, dass Berufsausbildungswillige aus Drittstaaten nach Deutschland zuwandern und eine Berufsausbildung aufnehmen, obwohl es auf dem deutschen Berufsausbildungsmarkt einen hohen Bedarf gibt, der bekanntlich allein mit Inländerinnen und Inländern nicht gedeckt werden kann. 

Daher wäre als Lösung denkbar, auf die gesetzliche Anforderung der Lebensunterhaltssicherung ganz zu verzichten. An ihre Stelle wäre der Einsatz eines Kataloges von objektiven Kriterien für eine Zuwanderung (»Punktesystem«) vorstellbar, der sich am Erfolg der Berufsausbildung orientiert und dem »Punktesystem« der Chancenkarte für Erwachsene nachempfunden werden könnte. Denn das, was für erwachsene Menschen bei der Chancenkarte gut und richtig ist, kann für junge Menschen bei für die Berufsausbildung nicht schlecht und falsch sein. 

Soweit nur einige mögliche Denkansätze, um die bisher ungelösten Probleme einer wirksamen Fachkräfteeinwanderung unter Zuhilfenahme der beruflichen Bildung zu lösen. Sie können sicherlich noch deutlich vermehrt werden. 

 

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12. März 2024
Carsten Hübscher
Carsten Hübscher
Beauftragter des Vorstandes für Projektentwicklung, Internationaler Bund (IB)

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12. März 2024

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