Zukunft Mittelstand

Zurück in die Zukunft. Ein Weckruf aus der Wirtschaft

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AdobeStock, frank peters

Situationsanalyse − ein »9-D-Modell«

13. März 2024

Der Mittelstand steht vor noch nie dagewesenen, komplexen Herausforderungen. Der Mittelstand, Rückgrat der deutschen Wirtschaft, befindet sich – differenziert betrachtet – in einer existenziellen Krise. Wenn nicht die politisch notwendigen Entscheidungen getroffen werden, sind der Wohlstand und damit unsere sozial-ökologische Marktwirtschaft substantiell gefährdet – und damit auch der soziale Frieden in unserer Gesellschaft. Es darf nicht nur geredet, es muss gehandelt werden. Dabei gibt es kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Hier muss es eine gesamtgesellschaftliche, konzertierte Aktion geben.

Die Herausforderungen sind vielschichtig. Zusammenfassend kann man sie als »9-D-Modell« beschreiben. Wenn man diese Punkte mit professionellen Formaten der Bildung (in Form von Aufklärung und Weiterbildung) der Mitarbeitenden angeht, können wir die Zukunft positiv gestalten.

Was beschreibt das »9-D-Modell«?

Es sind neun aktuelle Schwerpunktthemen, denen sich speziell der Mittelstand stellen muss.

Im Rahmen der allumfassenden Transformation der Wirtschaft und der politischen Weltlage beschreibt das Modell strategische Ziele. Hier ist erstens die Digitalisierung zu nennen, zweitens die Dekarbonisierung und drittens die Demografie. Das sind die big three, die massive Auswirkungen auf Geschäftsmodelle, Strukturen und Prozesse in Unternehmen haben. Bei der Digitalisierung kommt es darauf an, dass die Prozesse und Geschäftsvorgänge verschlankt und effektiver gestaltet werden. Dies muss in eine Diskussion über den enormen Mehrwert künstlicher Intelligenz eingebettet sein, um nicht im globalen Wettbewerb abgehängt zu werden. Hier sind China und die USA als Beispiele zu nennen. Sie setzen Benchmarks, die dem Mittelstand Sorgen bereiten sollten, aber auch Ansporn für massive Veränderungsprozesse sein können. Bewertet man dies auch im europäischen Kontext, sind die EU und deren Wirtschaftsraum eingepfercht in diesem massiven Wettbewerb der zwei Giganten, verschärft durch die aktuelle Situation in Russland.

Bei der Dekarbonisierung geht es um die Notwendigkeit, die Geschäftsmodelle, Strukturen und Prozesse schadstofffrei zu gestalten. Der Klimawandel schreitet voran, und hier ist gerade der Mittelstand gefordert, möglichst bald klimaneutral zu produzieren oder Dienstleistungen zu erbringen. Und schließlich ist im Rahmen der demografischen Entwicklung gerade in Deutschland das Thema Fachkräftemangel essentiell, um Wertschöpfung aufrecht zu erhalten. Hier müssen neue Modelle der Bildung und differenziertere Verfahren der Zuwanderung etabliert werden, um das Thema zu meistern.

Die vierte Ebene ist die zunehmende Disruption in unserer Gesellschaft. Dies ist im Sinne der Chancengerechtigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe gemeint. Darauf hat die Politik Antworten zu finden, um weitere Beschäftigungspotentiale gerade durch zielgruppenorientierte Bildungsprozesse zu heben. Ist dies annäherungsweise gewährleistet, lassen sich damit einerseits Transferleistungen – und damit die Sozialkosten sowie die steuerlichen Belastungen der Firmen – in Grenzen halten. Andererseits können immer mehr Menschen durch differenzierte Bildungsangebote in die Wertschöpfungsprozesse einbezogen werden. Dies ist auch ein Beitrag zur Beseitigung des Fachkräftemangels und ein Fundament zum Erhalt des sozialen Friedens.

Das fünfte D ist Demokratiebildung. Aktuell bereitet es uns große Sorgen, dass durch die zunehmenden sozialen Spannungen unsere Demokratie immer mehr in Frage gestellt wird. Deshalb müssen deren Vorteile – gerade durch Mittelständler – immer wieder gegenüber den Beschäftigten herausgestellt werden. Unternehmensumgebung darf nicht etwas Negatives sein, ist sie doch das Fundament unseres gesellschaftlichen Wohlstandes. Und da Fachkräfte immer stärker benötigt werden, darf sechstens auch Diversität kein Schreckgespenst mehr sein. Deutschland muss ein Zuwanderungsland mit einer offenen Unternehmenskultur werden, um die notwendigen Arbeitskräfte zu bekommen. Insbesondere gilt das, da diese Beschäftigten durch ihre Abgaben auch unseren sozialen Wohlstand aufrechterhalten.

In einem siebten Schritt steht der Mittelstand vor der Herausforderung einer Debürokratisierung, vor allem bei unternehmerischen Prozessen. Es kann – auch aus ökologischen Gründen – nicht sein, dass der Staat die Unternehmen mit Formularen zuschüttet und ihnen immer mehr bürokratische Aufgaben auferlegt. Dies beansprucht Ressourcen, die dringend in wertschöpfenden Prozessen benötigt werden. Sarkastisch formuliert könnte man sagen, dass die unökologisch orientierte Produktion von bürokratiegeleiteten Dokumenten, bisher meist nicht digital, von bestimmten Kreisen offenbar als Beitrag zur Steigerung der volkswirtschaftlichen Leistung gesehen wird. Die Öffentliche Verwaltung wird aktuell den Herausforderungen des Mittelstandes – vorsichtig ausgedrückt – nur bedingt gerecht, man könnte sagen, sie ist »bedingt einsatzbereit«. Hier ist dringend eine Anpassung an die Umsetzungsdynamik der Transformationsprozesse geboten, die der Mittelstand aktuell zu bewältigen hat.

Hinsichtlich der Situationsanalyse sind noch zwei für den Mittelstand sehr wichtige Punkte zu nennen. Nämlich achtens das strategische Ziel der Dematerialisierung. Damit ist die Optimierung des Wertstoffkreislaufes gemeint. Der qualitativ hochwertige Wareneinsatz, der aktuell in vielen Bereichen zu Lieferengpässen führt, muss minimiert werden. Manche Waren sind im Rahmen der Lieferkettenunterbrechung für ein End- oder Zwischenprodukt nicht oder nur sehr schwer verfügbar. Dies treibt die Preise für den Mittelstand und seine Kundschaft exorbitant nach oben. In Zukunft sollte in allen Bereichen möglichst wenig Material eingesetzt werden. Dies kann durch neue Produktentwicklungen oder die konsequente Nutzung wiederverwendbarer Stoffe geschehen.

Schließlich geht es neuntens um Deglobalisierung. Durch die globalen Disruptionen, wie den Krieg in der Ukraine und die Pandemie, ist nunmehr eindrucksvoll die Kehrseite der total vernetzten, aber einseitig ausgerichteten Weltwirtschaft zu sehen. Man könnte das auch – dann wäre es sogar ein Zehn Punkte-Programm – »Diversifikation der Warenwirtschaft« nennen. Einseitige und nicht diversifizierte Lieferketten, das wird uns gerade im Energiesektor drastisch vor Augen geführt, sind das Ergebnis eines schlechten Risikomanagements. Hier waren Politik und Wirtschaft zu sorglos. In vielen Unternehmen gibt es bei zahlreichen Prozessen eine Stärken-/ Schwächen- sowie Chancen-/Risiken-Bewertung, also eine SWOT-Analyse. Hätte man diese über mehrere Jahre im Rahmen der Globalisierung wirtschaftlicher Beziehungen ernsthafter betrieben, wäre es vermutlich nicht so weit gekommen. Wandel durch Handel ist zwar schön formuliert, aber macht einseitig abhängig – mit gravierenden Auswirkungen. Deshalb muss der Mittelstand darauf achten, dass in Zukunft immer mehr Produktion von Dienstleistungen und Waren nach Deutschland sowie in die EU zurückverlagert wird. Es ist zum Beispiel unerträglich, dass eigene Chipproduktionsketten nicht bei uns in Deutschland ansässig sind.

 

Konsequenzen − ein Zwölf-Punkte-Programm für den deutschen Mittelstand

Was sind nun die Konsequenzen aus dieser Situationsanalyse? Erstens brauchen wir eine Stärkung des Standortes Deutschland. Damit eng verbunden ist die öffentliche Anerkennung der Bedeutung des Mittelstandes als Fundament unserer Wirtschaft. Zweitens: mehr Mut zum Unternehmertum, mehr Förderung von Startups. Damit verbunden ist drittens der Abbau von bürokratischen Auflagen sowie die Verringerung der hohen Steuerlast.

Viertens brauchen wir hinsichtlich der Berufswahl der aktuellen und nachfolgenden Generationen nicht nur Master, sondern auch Meister – gerade für den Mittelstand! Zudem sollte fünftens die Menge der in Deutschland produzierten Waren steigen, im Zusammenspiel mit europäischen Partnerunternehmen. So lassen sich Redundanzen in der EU vermeiden. Als Folge daraus geht es sechstens um die Verkürzung der Lieferprozesse, vor allem in die EU hinein. Wir sollten die Produktion in stark globalisierten Standorten, vor allem im asiatischen Raum, zurückfahren. Zudem ist siebtens eine weitere Modernisierung des Einwanderungsrechts für Fachkräfte nötig. Achtens muss unser Bildungssystem besser finanziert werden, vor allem in Zusammenarbeit mit den Unternehmen. Dazu braucht es neuntens eine Stärkung der betrieblichen Weiterbildung, um den Transformationsprozess mit den Menschen und nicht gegen sie zu gestalten. Punkt zehn ist die Diversifikation der Lieferkettenwege, weg von einer monopolistischen Zuliefersystematik, hin zu mehr Vielfalt der Warenwirtschaft. Elftens geht es um eine Verringerung des Materialeinsatzes bei gleichbleibend hoher Qualität – und zwölftens um die Optimierung des energetischen Einsatzes und Verbrauchs im Sinne der ökonomischen und ökologischen Transformation. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz muss realitätskonform umsetzbar sein, darf aber die Unternehmen nicht von ihrer Verantwortung für Menschenrechte, Umweltschutz und soziale Standards befreien.

 

Bedeutung der Weiterbildung in der Transformation

In dieser systemischen Gesamtbetrachtung kommt der Weiterbildung eine fundamentale Rolle zu. Die Transformationsprozesse betreffen in der Regel alle Unternehmensbereiche im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Hier sei das Beispiel der Digitalisierung genannt – mit der Perspektive auf die Herausforderung künstlicher Intelligenz.

Geht man davon aus, dass die einzige fundamentale Ressource in unserer Republik in den Köpfen der Menschen (also der Mitarbeitenden) liegt, dann kommt es darauf an, dieses enorme Wertschöpfungspotential in allen Lebensbereichen und entlang der Bildungskette optimal zu nutzen. Hier spielt auch das Thema Bildungsgerechtigkeit eine große Rolle. Dazu bedarf es Rahmenbedingungen, die diesen Prozess der Pflege der Fähigkeiten von Menschen professionell fördern und nicht durch bürokratische und oft unterfinanzierte Prozesse behindern. Bildung und Weiterbildung müssen als Schlüssel zum gesamtgesellschaftlichen Erfolg begriffen werden, der alle Bereiche umfasst. Nur so kann die sozial-ökologische Trendwende gelingen: indem alle Menschen an der Transformation in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen (also auch in Unternehmen) partizipieren können.

Dies muss bei der frühkindlichen Bildung, vor allem im Sinne der frühzeitigen Sprachförderung, anfangen. Es geht über die schulische Bildung mit ökologischen sowie ökonomischen Lehrplänen bis zu einem Verständnis der weitgehenden Gleichwertigkeit von dualer Ausbildung und Studium. Master und Meister bedürfen der Anerkennung durch die Gesellschaft – inklusive Optionen der Durchlässigkeit. Akademische Ausbildung kann allein nicht die Transformation gestalten. Sie wird ebenso durch alle Arbeits- und Fachkräfte in den Unternehmen getragen. Hierbei ist es wichtig, dass mehr Mitarbeitende an Weiterbildungsprozessen, vor allem im niedrigschwelligen Bereich, teilnehmen können. Das kann durch Eigeninitiative der Mitarbeitenden oder durch gezielte Implementierung von Weiterbildungsprozessen im betrieblichen Wertschöpfungsprozess seitens der Unternehmensführung geschehen. Dies ist durchaus auch als systemischer Vorgang zu interpretieren. Gute Beispiele hierfür sind die Nutzung des sogenannten Qualifizierungschancengesetzes sowie die Instrumente der Teilqualifikation, wie beispielsweise das Programm MyTQ des Bundesverbandes der Träger Beruflicher Bildung (BBB).

Es ist absolut evident: Die Transformation kann nur gelingen, wenn man mündige und aufgeklärte Bürger*innen als Mitarbeitende an den vielfältigen und dynamischen Veränderungsprozessen aktiv beteiligt und sie ihnen nicht einfach überstülpt. Damit werden Ängste vor Veränderung verhindert, Handlungssicherheit hergestellt sowie Innovationspotentiale aktiv gefördert. Denn wer den Hintergrund dieser Transformation erkennt, wird weitaus motivierter an der Gestaltung mitwirken. Weiterbildung ist hierbei essentiell und wird den sozial-ökologischen Transformationsprozess in den kommenden Jahren nicht nur unterstützen, sondern sogar erst er- möglichen. Wenn man weiß, was man will und es durch ein entsprechendes Qualifikationsprofil auch umsetzen kann, wird es funktionieren. Weiterbildung, gerade in Unternehmen, muss noch mehr an Bedeutung gewinnen. Wer nicht aus- oder weiterbildet, darf sich nicht wundern, im Wettbewerb um die besten Köpfe zu den Verlierern zu zählen. Sofern die notwendigen Ressourcen fehlen, können externe Bildungsdienstleister eingesetzt werden. Auch Aus- und Weiterbildungsverbünde von Unternehmen sind hervorragende Instrumente, um den Qualifizierungsansprüchen zukünftiger sowie aktueller Mitarbeitender gerecht zu werden.

 

Perspektiven

Werden die strategischen Ziele und die genannte Agenda von allen Seiten ernst genommen, wird dieser Transformationsprozess hin zu einer sozial- ökologischen (ethisch-kulturellen) Marktwirtschaft gelingen. Im Kontext der globalen Anforderungen zum Wandel gilt es, vor allem durch die professionelle Umsetzung der genannten Ziele der Unternehmensführungen, die Mitarbeitenden zu Beteiligten zu machen. Nur so lassen sich die Ziele realisieren. Wenn nicht jetzt, in dieser komplexen Krisensituation, wann dann? Der Mittelstand kann und muss das schaffen! Denn ohne ihn gibt es in unserem Land auch keine Konzerne mehr. Mit Blick auf die Politik entsteht der Eindruck, als sei dies nicht immer allen präsent. Besonders gilt das, wenn es um parlamentarisch realisierte sogenannte Rettungsschirme geht. Nicht nur – teilweise fragwürdig geführte – Großbanken sind systemrelevant, sondern auch viele Mittelständler. Aber die schreien eben nicht so laut, auch wenn sie besser geführt sind. Letztlich sind sie aber die Leittragenden der Fehler der Großkunden, trotz differenziertem eigenen Portfolio.

 

Abschließende Kernbotschaft

Der deutsche Mittelstand verdient mehr Respekt hinsichtlich der Leistungs- sowie Leidensfähigkeit und der gesellschaftlichen Bedeutung als tragende Säule unserer Wirtschaft. Ohne Mittelstand gibt es keine Basis für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft in Deutschland! Dazu sind neben professionellen Geschäftsmodellen, Strukturen und Prozessen gut ausgebildete und den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen gerecht werdende Mitarbeitende notwendig. Unser wichtigster Rohstoff liegt in den Köpfen der Menschen.

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13. März 2024
Thiemo Fojkar
Vorsitzender des Vorstandes, Internationaler Bund (IB)

 Thiemo Fojkar

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